Psychotherapeutin Barbara Winzely schreibt in ihrem Gastkommentar darüber, was Krieg und Flucht für Kinder und Jugendliche bedeutet und wie man helfen kann.

Der Krieg in der Ukraine sorgt für große Flüchtlingsströme auf der Suche nach Sicherheit, so auch an der Grenze zwischen der Ukraine und Rumänien.
Foto: AFP / Daniel Mihailescu

"Das passt mir gar nicht, dass jetzt auch noch Krieg ist!" – mit diesem etwas unbeholfenen Hilferuf drückt ein 17-Jähriger in meiner psychotherapeutischen Praxis bei Hemayat seinen ganzen Schmerz und das beklemmende Gefühl, das er zurzeit erlebt, aus. Der junge Afghane, 2015 selbst als unbegleiteter Minderjähriger in Österreich angekommen, erinnert sich nur zu gut an die schrecklichen Kriegserfahrungen in seinem Heimatland.

Neben dem unfassbaren Leid, der Zerstörung und den Konsequenzen, die der Krieg in seinem jungen Leben bereits verursacht hat, spiegelt sich in seiner Aussage auch die Empörung über den Zustand der Welt wider. Zwei Jahre Covid-19-Pandemie, transnationale Bedrohungen, Klimawandel sowie die tiefe Sorge um den Erhalt unseres Lebensraums beschäftigen viele Kinder und Jugendliche hierzulande. Und nun ist auch noch Krieg in Europa.

Kinder und Jugendliche erleben, dass erwachsene Menschen Streitpunkte auf politischer Ebene nicht lösen können. Dadurch verliert die gewohnte Ordnung ihre Stabilität, Sicherheitsstrukturen und Wertesysteme brechen zusammen. Die Medien liefern ständig Bilder über das Scheitern der Friedensbemühungen. Die mangelnde Konfliktkultur und das unberechenbare Machtstreben einzelner Personen erzeugen ein Bild des Chaos und der Sinnlosigkeit. Das alles führt zu einer großen Irritation. Auch bei jenen, die sich bisher hier in Österreich sicher fühlten.

Angst und Erregung

Ich arbeite täglich mit Menschen, die Krieg, Flucht und zum Teil Folter ihrer physischen und psychischen Existenz erfahren haben. Darunter sind auch Kinder und Jugendliche. Wie sehr sich die existenzbedrohenden Ereignisse traumatisch auf sie auswirken, hängt mitunter davon ab, wie die Eltern mit der Situation zurechtkommen.

Fest steht, dass sich die Spuren des Kriegs bei Kindern ganz besonders tief einprägen. Sie sind in einem Lebensalter, in dem sich ihre Persönlichkeit durch Entwicklungsprozesse strukturiert. Für ein gesundes Heranwachsen brauchen sie ein sicheres und förderliches Umfeld. Krieg steht diesem Bedürfnis diametral entgegen. Wir sprechen von Trauma, wenn ein Ereignis das seelische Gleichgewicht so stark erschüttert, dass die sensorische und psychische Verarbeitung nicht mehr funktioniert. Angst und Erregung steigern sich dann bis ins Unerträgliche. Darüber hinaus wird das Grundvertrauen, beschützt und körperlich und seelisch sicher zu sein, beschädigt. Neben der Angst, das eigene Leben zu verlieren, kann auch die Angst um Angehörige und geliebte Menschen gleichermaßen traumatisierend wirken.

"Fest steht, dass sich die Spuren des Kriegs bei Kindern ganz besonders tief einprägen."

Laut der Uno gab es in der Ukraine bereits vor dem Einmarsch Russlands 1,5 Millionen Binnenflüchtlinge. Nun werden bis zu sieben Millionen weitere Personen erwartet. Die meisten flüchten in die angrenzenden Länder. Österreich lockert jetzt seine restriktive Migrationspolitik und nimmt ukrainische Flüchtlinge auf. Das ist sehr wichtig!

Im Falle des jungen Afghanen in meiner Praxis spielt das Thema Retraumatisierung eine wichtige Rolle. Die Auswirkungen seiner traumatischen Erfahrungen sind so weitreichend, dass nicht nur die äußere Gefahr zu einem Teil seiner Lebenswelt wurde, sondern diese Lebenswelt insgesamt und die verarbeitenden psychischen Strukturen seitdem bedroht sind. Der junge Mann leidet, wie die meisten meiner Klientinnen und Klienten, an einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Ihn treffen die Bilder des Krieges besonders hart. Sie stellen Trigger dar und zwingen ihn zum wiederholten Durchleben des ursprünglichen Traumas. Häufig finden wir Symptome wie Flashbacks, Albträume, emotionale Stumpfheit, Teilnahmslosigkeit, Freudlosigkeit, Schreckhaftigkeit und Schlafstörungen. Angst und Depression sind häufig assoziiert und Suizidgedanken nicht selten.

Rasche Ersthilfe

Was können wir tun? Es ist wichtig, im Gespräch zu bleiben. Kinder und Jugendliche brauchen Menschen, die erklären und trösten, Zuversicht und Geborgenheit vermitteln. Entscheidend, ob und in welchem Ausmaß traumatische Ereignisse zu Traumatisierungen führen, sind letztlich die Dauer der Erfahrung, welche Rolle wichtige Bezugspersonen spielen und ob und wann stützende Ressourcen wirksam werden.

Aus der Traumaforschung wissen wir, wie wichtig die rasche Ersthilfe, der stützende Arm, die gereichte Decke und die respektvolle Begegnung sind. Dazu zählt auch ein Vertrauen in eine Welt, die nicht gleichgültig und tatenlos zusieht. In diesem Sinne ist es auch für alle Seiten von großer Bedeutung, dass Österreich ukrainische Flüchtlinge aufnimmt. Zur Erstversorgung zählt eine rasche und angemessene Unterbringung der ankommenden Familien, Frauen und Kinder sowie sofortige psychologische Abklärung und bei Bedarf psychotherapeutische Hilfe. Indem wir Solidarität zeigen und konkret Hilfe anbieten, können wir auch der Lähmung entgehen, die sich angesichts des sinnlosen Kriegs in der Ukraine ausbreitet. (Barbara Winzely, 1.3.2022)